Laufen wir einem unerreichbaren gesellschaftlichen Ideal hinterher? Ein Interview mit Giuseppe Gracia

Giuseppe Gracia

Verlagsleiter Dominik Klenk spricht mit Journalist und Schriftsteller Giuseppe Gracia über sein Buch "Die Utopia-Methode". Sie reden darüber, warum der westliche Wohlstand gnadenlose Denkfiguren hervorbringt und weshalb wir dazu neigen, uns selbst immer häufiger mit den Idealen einer perfekten Welt zu vergleichen.

Dominik: Die politische Weltlage ist nicht ganz einfach im Moment. Kaum ist eine globale Pandemie am Ausklingen, ist Europa wieder Kriegsschauplatz geworden. Wir haben damit Flüchtlings-Ströme freigesetzt. Auch für uns scheint ein vollversorgtes Leben mit gut geheizten Häusern nicht mehr selbstverständlich zu sein. Was ist los mit der Welt? Haben wir uns zu sicher gewähnt in einem Wohlstand der letzten drei Jahrzehnte, der vielleicht doch nicht so normal war, wie er uns jetzt erscheint?

Giuseppe: Das ist eine sehr gute Frage und natürlich relativ schwierig zu beantworten. Ich versuche, mit meinem neuen Buch "Die Utopia-Methode" ein bisschen eine Antwort zu finden für mich und für andere hoffentlich auch. Ich glaube schon, dass der Wohlstand dazu geführt hat, dass viele Menschen sich utopische Vorstellungen gemacht haben. Darüber, woher der Wohlstand eigentlich kommt – in der Regel von Arbeit und Produktivität. Auf der anderen Seite natürlich, wie es mit der Welt sonst steht außerhalb der westlichen Wohlstandsoasen. Wie gefährlich sind andere Zivilisationen oder Kulturen? Wie ernst muss man geopolitische Realitäten noch nehmen? Die Ukraine-Krise und der Krieg zeigen sofort, dass die geopolitischen Realitäten nach wie vor da sind und nicht wegzudiskutieren sind. Die kann man nicht einfach mit utopischen Modellen einer globalen Wohlstandsgesellschaft übertünchen. Auch die Corona-Krise hat uns gezeigt, dass die Natur nicht einfach nur nett ist, sondern durchaus etwas Tödliches hat.

Wenn wir nochmal auf den Krieg zurückkommen: Viele wollen sich heute in den Kopf von Putin einschalten und schauen, was wirklich abgeht. Ganz offensichtlich ist die Motivationslage von Putin machtpolitisch und geopolitisch motiviert. Gleichzeitig mag eine Motivation auch darin liegen, dass er die Werte der westlichen Zivilisation bekämpfen möchte: Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung und Demokratie. Siehst du das auch so?

Ja natürlich. Es ist ein Zarenreich und er möchte es wieder zum Zarenreich machen. Die Kommunisten haben das Zarenreich zerstört durch ihren Gleichmacher-Kult. Und der Putin möchte die Verbindung zwischen Religion und Staat. Das ist der große Unterschied zu den Kommunisten vorher, dass Putin die Religion wieder stark gemacht hat und ins Kaiserreich oder Zarenreich integrieren möchte. Aber sie sind cäsaropapistisch. Der Cäseropapismus ist in Russland massiv traditionell verankert. Das bedeutet: Kaiser und Gott in einer Person. Das ist christlich gesehen aus unserer westlichen Sicht problematisch. Das macht die Menschen unfrei! Und wie man sieht, ist das immer auch diktatorisch.

Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass das Problem in der Ukraine ein älteres ist. Und es wäre auch ohne Putin früher oder später ausgebrochen. Die Leute, die Richtung Moskau schauen, die russische Orthodoxie, und die lateinische Welt, die eher Richtung Westen und Rom schaut – diesen Graben haben die Menschen dort. Und diesen Graben kann man nicht einfach vergessen. Denn wenn man sagt: Wir machen jetzt ein bisschen NATO oder EU-Osterweiterung und hauen uns die Ukraine in den Westen rein – so einfach geht es nicht, auch wenn Putin nicht an der Macht wäre.

Jetzt ist dieses Thema des Krieges, der globale Auswirkungen hat, in aller Munde. Putins Krieg ist ein Angriff von außen auf Europa, auf die westliche Zivilisation, und da liegt jetzt das ganze Augenmerk drauf. Du hast, wenn ich das richtig verstehe, mit deinem Buch einen Unterstrom dazugebracht. Du sagst: Es gibt auch einen Angriff von innen auf die westliche Zivilisation. Wie sieht dieser Angriff aus, den vielleicht nicht so viele Leute auf dem Schirm haben? 

Man kann es am russischen Angriffskrieg auf die Ukraine beobachten, am Beispiel Deutschland. Wenn man sich die Energiepolitik und Verteidigungspolitik Deutschlands die letzten 10 Jahre anschaut, sind die linksgrün dominiert. Man hat die Atomkraftwerke und das Militär heruntergefahren. Wenn Putin nicht der Überzeugung gewesen wäre, Deutschland ist wehrlos und nicht schlagkräftig und vor allem auch militärisch impotent, industriell komplett abhängig vom russischen Gas, dann hätte er wahrscheinlich anders oder gar nicht angegriffen. Wenn man die Deutschen für gefährlich hält, macht man das nicht. Das tut er aber nicht! Und das liegt an den linken und grünen Utopien im Bereich der Klima- und Umweltpolitik in erster Linie, und im Bereich der EU-Politik. Das man denkt, man braucht kein Militär und kein Atomstrom mehr. Diese utopische Idee, dass die Welt à la Star Trek, Raumschiff Enterprise, funktioniert – also eine wunderbare globale Familie, die sich nicht mehr Feind ist – das hat zur Schwäche Deutschlands geführt [...]

Wenn ich schau, was uns im Kulturkampf in den letzten Monaten und Jahren beschäftigt hat: Fridays for Future, Black Live Matters, #metoo; das sind ja im Grundsatz wichtige Anliegen, die vertreten werden. Hier kann man nicht sagen, das leitet sich primär von einer Utopie ab. Wo sind bei diesen guten Anliegen die Kipp-Punkte?

Die Anliegen sind gut und die muss man auch unterstützen. Niemand möchte Rassismus, Sexismus, Umweltverschmutzung, Klimakollaps. Das möchte niemand! Utopisch sind die Modelle, die hinter den Bewegungen stecken, weil sie von einer Welt ausgeht, die es nicht gibt. Das Ziel von Fridays for Future ist eine klimaneutrale Menschheit. Das heißt, es wäre besser, wir wären gar nicht da – unsere Maschinen wären nicht da, die Industrialisierung wäre nicht da. Dann geht es der Natur gut und dann ist alles wunderbar. Die Frage, ob das realistisch ist und vor allem die Frage, was die Industrialisierung und die ganzen Technologien, die der Westen entwickelt hat die letzten 100 Jahre, an Menschenleben gerettet hat; konkret: was die Energiewirtschaft an Menschenleben gerettet hat allein durch Heizung, durch Bau und Industrie; oder: was die Medizinaltechnologie und die bösen Chemiekonzerne entwickelt haben für die Medizin – dass die Menschen heute älter werden – das ist alles total egal ...

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